Scholz räumt Vertrauenskrise ein – Europawahl „war ein Einschnitt“
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat in einer Regierungserklärung im Bundestag eine Vertrauenskrise in der deutschen Politik eingeräumt. „Ständige Krisenerfahrungen haben Vertrauen erschüttert, das kann man gar nicht anders sagen“, sagte Scholz am Mittwoch in Berlin. Die Bürger hätten bei der Europawahl am meisten eine Partei gewählt, die die europäische Perspektive infrage stelle, so der Kanzler. „Ich sage es ganz klar: Europa ist für Deutschland eine zentrale nationale Aufgabe.“
Europawahl als Warnsignal
Scholz bezeichnete das Ergebnis der Europawahl, bei der seine Partei ein historisch schlechtes Ergebnis eingefahren hatte, als „Einschnitt“. Das Ergebnis habe gezeigt, „dass ganz offenbar angesichts all der vielen Krisen vielen die Zuversicht abhandengekommen ist“, sagte er. „Wir müssen dort, wo Zuversicht fehlt, sie neu begründen.“
Haushaltsentwurf kommt im Juli
Der Kanzler warnte eindringlich vor Verteilungsdebatten und betonte, dass der Schwerpunkt viel eher auf der Konjunkturbelebung liegen müsse. Scholz beklagte eine „unglaubliche Ausbreitung des Nullsummen-Denkens“. Dieses führe nur „zu Neid und Missgunst und nicht zum Miteinander“. Seine Koalition werde gemeinsam mit dem Haushaltsentwurf einen „Wachstumsturbo“ mit auf den Weg bringen, sagte Scholz. Dazu gebe es „sehr kollegiale Gespräche in der Bundesregierung“, fügte der Kanzler hinzu – und erntete dafür Gelächter von der Opposition. „Wir werden den Haushaltsentwurf im Juli vorlegen“, versprach der Kanzler.
Ursprünglich hatten sich Scholz, Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) einen Kabinettsbeschluss am 3. Juli vorgenommen. Dieses Datum ist allerdings bereits jetzt nicht mehr zu halten, weil eine politische Einigung noch in einen beschlussreifen Entwurf übersetzt werden muss. Inzwischen wird der 17. Juli für den Beschluss im Kabinett angepeilt. Die Verhandler müssen Wege finden, eine Lücke im zweistelligen Milliardenbereich zu stopfen.
EU-Gipfel: Einigung bei Spitzenposten
Der Kanzler bestätigte vor den Beratungen im Europäischen Rat auch, dass er sich mit anderen europäischen Staats- und Regierungschefs der großen Parteienfamilien auf eine Nominierung von Ursula von der Leyen (CDU) für eine zweite Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin geeinigt hat. Zudem habe man sich darauf verständigt, dass die liberale estnische Regierungschefin Kaja Kallas EU-Außenbeauftragte werden soll und der frühere portugiesische Regierungschef António Costa den Posten des EU-Ratspräsidenten erhalten soll.
Die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni hatte das Vorgehen zur Vergabe der EU-Spitzenposten zuvor scharf kritisiert. In Europa herrsche eine „Oligarchie“, sagte sie zu den Absprachen zwischen Scholz und fünf weiteren Staats- und Regierungschefs im Namen der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), der Sozialdemokraten und der Liberalen. Diese Parteien stellen nach den Europawahlen Anfang Juni erneut die Mehrheit. Beim Gipfel ist für das Personalpaket eine qualifizierte Mehrheit von 15 EU-Ländern nötig, die 65 Prozent der europäischen Bevölkerung vertreten. Damit gilt es als nahezu ausgeschlossen, dass Meloni oder andere Kritiker den Beschluss noch stoppen können. Schwieriger könnte es für von der Leyen werden, im Europaparlament die absolute Mehrheit der Abgeordnetenstimmen zu erhalten. Das Votum findet frühestens in der ersten Sitzung Mitte Juli statt.
Die aktuelle politische Lage zeigt deutlich, dass die Bürger zunehmend das Vertrauen in die etablierten Parteien und deren Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, verlieren. Ein starkes und stabiles Europa ist zweifellos von zentraler Bedeutung für Deutschland, doch die Bundesregierung muss nun beweisen, dass sie in der Lage ist, die Herausforderungen der Zeit zu meistern und das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen.
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